Das Geheimnis des Spiegels

Maestro: Meine Seele war im Limbus gefangen, an einem Ort ohne Klang. An einem tauben Ort. Bevor du kamst um mich zu retten, waren all die Instrumente tot. Dein Lied hat sie wieder zum Leben erweckt. Je näher du kamst, umso mehr erwachten sie – als ob ein Geist all die Saiten und Tasten heimsuchte. Seltsame Harmonien überschwemmten meinen Verstand, wie ein endloses Summen. Zuerst war es fern, so fern – nicht lauter als mein Atem. Tag für Tag wuchs es heran. Ich habe es fast für meinen eigenen Herzschlag gehalten, denn es besaß den selben Rhythmus und den selben tiefen, erdigen Klang.  Es war überall. Und dann hörte es auf. Das war der Augenblick deiner Vision. Wohl wissend, was ich verberge und was du vermisst, wandtest du dein Gesicht ab, voller Verlangen und Angst... Nur um dein Lied ein weiteres Mal zu singen. Und dann, als ich deinem Gesang lauschte, wusste ich, dass du kommen würdest. Denn es gab für dich keinen anderen Weg...

Ana: Nacht für Nacht hatte ich diesen Traum vom Rennen und Fallen. Eine offene Tür außer Reichweite, ganz egal wie schnell ich darauf zurannte. Ich würde fallen in dem Moment, in dem meine Finger fast die uralte Klinke berührten. Ich wusste, du würdest hinter dieser Tür auf mich warten. Geliebter... Schatten... Meister... Ich gab dir viele Namen in meinen nächtlichen Visionen. Tagsüber studierte ich die Elemente. Ich versuchte die Umwandlung von einfachen Klängen hin zum kreativen Geist. Aber aus meinem Wasser wurde Dunst, meine Erde zerfiel zu Staub, meine Luft war nichts als schwerer Nebel und mein Feuer erlosch zu kalter, fahler Asche.  Nur meine einsamen Minnelieder trugen die Macht des Poetischen Genius'.  Das Reich des Sichtbaren überwindend, um meinen Geliebten zu finden, griffen die Melodien nach dir. Meine Stimme hallte in jedem Schritt, den du gingst, nach. Ich wurde zum heraufziehenden Phantom, draußen an deinem Fenster. Ich wurde die Nacht und der Sturm. Es ist wahr, dass ich deine Geheimnisse gefürchtet hatte. Doch meine Furcht war mein eigenes Verlangen, nicht du, mein Geliebter. Nicht du. Wieso sollte ich nicht gehen?...

Maestro: Ich habe dich gerufen, weil in dir etwas ist, dass mich vervollständigt. Genauso  ist etwas in mir, das dich vervollständigt. Die Tests waren notwendig, um herauszufinden, ob du die Eine bist. Ich habe dich nicht nur aufgespürt um dich zu finden, sondern um auch mich zu finden. Und nach all diesen Tests wissen wir nun, dass wir niemals für einander bestimmt waren, denn wir waren nie ganz getrennt. Am Ende müssen wir nicht durch den Spiegel gehen, um uns zu vereinen. Denn der Spiegel, jene dünne Wand aus Glas, die uns trennen sollte, dieser Spiegel existiert nicht.

Ana: Ich bin der fehlende Teil deiner Tonleiter. Ich bin deine Paralleltonart. Wir sind zwei Saiten einer Minnesängerlaute. Zwei Klänge eines Akkordes. Am Ende waren all meine Lieder nur Verse eines Liedes – das Geständnis meiner Liebe, welche ich für dich in mir trage, so lange wie ich existiere. Wir sind eins. Eins. Geliebter... Schatten... Wir sind vollkommen...

“Gratuliere, Ana!
 Der Spiegel, den du siehst, ist ein herrliches Mysterium. Es ist so sehr Spiegel, wie es Pforte ist – für jene, die bereit sind, mit den verborgenen Wahrheiten in Berührung zu kommen. Von nun an bist du meine Novizin.”

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